Eine Idee zweier Staaten

Letztens kam ein Kollege von mir auf eine  – wie ich finde – geniale Idee, besser gesagt ein mathematiker-typisches Gedankenexperiment auf soziopolitischem Felde.

Die Idee ergab sich aus einer der derzeitig üblichen Gesprächen über die Grenzen der Demokratie in Bezug auf Handlungsfähigkeit, Sinnhaftigkeit und Gerechtigkeit, angesichts eines Brexit, den weder der Initiator, noch klar demografisch und geographisch abgrenzbare Teile der Bevölkerung haben wollten; genau genommen scheinen im nachhinein nicht mal die Wähler von ihrem eigenen Votum allzu überzeugt.

Die Frage lautete, wie man den Londonern und den Schotten und den Jungen und den Intelligenten und den Bänklern und den Besonnenen und den Akademikern und den an den Säulen des Herakles geketteten, denen man womöglich völlig gegen ihren Willen die Zukunft versaut hat, aus der Patsche helfen kann.

Die Idee eines eigenen Staates liegt nahe, welcher nicht nur Schottland, Nordirland und Gibraltar umfasst, sondern auch eine ganze Reihe von englischen Städten wie London, Cambridge, Bristol, Oxford usw. Das wird natürlich knifflig, wenn man ein Staatsgebiet wie gewöhnlich als Vereinigung mehrerer einfach zusammenhängender Teilgebiete denkt.

Das neu zu gründende Euro-Britain würde diese Bedingung zwar erfüllen, gliche aber eher einem weit verstreuten Inselstaat innerhalb des Festlands (welches zum größten Teil, nämlich das bisherige England, selber Inselstatus hat), einer Ansammlung von Enklaven also; Old-England würde dagegen eher einem Stück Schweizer Käse ähneln, wäre also von Exklaven durchsetzt.

Hätte man diesen Zustand erreicht, so würden sich sicherlich im Laufe der Jahre verschiedene weitere Teilgebiete von Teilgebieten, einzelne Stadtteile, Straßenzüge, Wohneinheiten, … den einen Staat verlassen um den anderen beizutreten, es gäbe wohl ein munteres, dynamisches Zuordnungs-Karussell. Es könnte also Zeit für ein neues Staatenmodell sein. Und da stellt sich die Frage:

Ist das „Staatsgebiet“ als ausschließliches Herrschaftsterritorium eines einzigen Staates heute noch unverzichtbares Element eines Staates?

Anders gefragt: können mehrere Staaten auf dem gleichen Gebiet existieren? Könnten sich Euro-Britain und Old-England gemeinsam, nebeneinander und miteinander das jetzige Großbritannien teilen, ohne festlegen zu müssen, welcher Quadratfurlong wohin gehört?

Wir leben in Zeiten, in denen der physischer Ort weniger bedeutend als jemals zuvor ist. Manch ein chinesischer Angestellte einer amerikanischen Firma arbeitet auf den Malediven auf einem indischen Server für einen deutschen Endkunden, während er parallel mit zwei Freunden auf drei Kontinenten Skat spielt. Hypothetisch. Warum müssen politische Staatsgebilde noch so an Grund und Boden hängen?

Soll doch jeder Bürger und Arbeitnehmer, jede Firma und jede Institution selber entscheiden, welcher Staatsmacht er / sie sich unterwerfen will, mit allen rechtlichen, pflichtlichen und finanziellen Konsequenzen. Klar, dass so was wie Einreiseverbote kein Sinn mehr machen, aber schließlich ist „Einreise“ auch ein rein räumlicher Begriff und machte in einer gebietsfreien Welt auch keinen Sinn mehr.

Natürlich müssten alle Aufgaben, die territorial gebunden sind – Küstenschutz, Straßenbau und Müllabfuhr, zum Beispiel – zwischen den Staaten geregelt werden. Manches wird halt komplexer, und anderes einfacher.

Die zwei Staaten befänden sich in einem ständigen Wettkampf um die Gunst der Bürger, denn das Wechseln der Staatsbürgerschaft wäre ähnlich einfach wie ein Wechsel der Krankenversicherung. Dies würde sicherlich dem Bürger zugute kommen und der elenden Stagnation der Politik entgegenwirken.

Also, wie ist eure Meinung – wäre ein solches Modell grundsätzlich möglich?

Über Pfeffermatz

... ist ein schokonalytischer Glühwurstematiker.
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12 Antworten zu Eine Idee zweier Staaten

  1. franhunne4u schreibt:

    Njet, Non, Nein, Nö, Nee, No, Nei
    Staaten haben Rechtsgrundlagen. Welche gillt, wenn sich zwei Nachbarn in einem Mietshaus streiten?
    Welches Mietrecht gilt, wenn du einen Amerikanischen Vermieter mit deutschen Mietern hast?
    Und wenn alle Vermieter plötzlich amerikanisches Recht anwenden dürfen – wie steht es mit dem dann nicht mehr existenten Mieterschutz?
    Willst du neben einem den amerikanischen Waffentraum lebenden Waffennarren mit leicht psychotischen Zügen wohnen?
    Willst du, dass der Staat dich, wie der russische oder nord-koreanische total überwachen darf und für Gesinnungsverbrechen hinrichten?
    Wie sieht es mit Kinderrechten aus? Alle Kinder gehören dem Vater, wie in Saudi-Arabien üblich?
    Mädchen dürfen nur mit Zustimmung der Eltern heiraten?

    Nein, nein und nocheinmal nein
    ICH bin dafür, dass wir es einfach machen, ein Staatsgebiet, ein Rechtsgebiet. Dann kann ich mir sicher sein, dass nicht jeder Idiot hier eine Waffe bei der Eröffnung eines Kontos in die Hand gedrückt bekommt. Dann sind meine Tiere keine bloße Sache, sondern Lebewesen, für die die Regelungen des Sachenrechts gelten (ein himmelweiter Unterschied!)

    • Pfeffermatz schreibt:

      Über das resultierende Rechtssystem habe ich auch schon viel nachedacht. Eventuell könnte immer das Rechtssystem des geschädigten greifen.
      Übrigens bin ich nicht von einer beliebigen Staatsmenge ausgegangen, sondern von genau zwei Staaten, die sich ein Gebiet teilen. In mancherlei Hinsicht würden sie sich rechtlich auf einander abstimmen müssen, und in anderer griffe dann der Wettbewerb. Und viele Bestimmungen würden sich aus dem Staat heraus verlagern.
      Wenn also einer der zwei Staaten das Waffengesetz liberalisiert, würde vielleicht der andere Staat das Schießen auf einen seiner Bürger sehr hoch bestrafen. Und Institutionen, Vermieter, Firmen würden das Tragen von Waffen in ihrem Herrschaftsbereich stärker reglementieren.
      Noch eine Idee: das Strafrecht (denn in diesem Aspekt des Rechtssystems scheint das Hauptproblem zu liegen) unterliegt gar nicht direkt den Staaten, sondern ist irgendwie selbstständig.

      • Tanja im Norden schreibt:

        Dann müsste das Strafrecht auch durch ein anders zusammengesetztes Parlament entschieden werden als andere Rechtsbereiche. Und ist es nicht eigentlich genau das, was das EU-Parlament ist (oder sein sollte)? Es setzt sich aus Vertretern mehrerer, jetzt eben mehr als zwei, Staaten zusammen und beschließt Regeln, die von den Einzelstaaten in nationales Recht umzusetzen sind. In anderen Bereichen dagegen entscheiden die nationalen Parlamente. Und es müsste ein eigenes, übergeordnetes Rechtssystem für alle Aspekte geben, die etwas mit der Frage „wo?“ zu tun haben, so wie das erwähnte Mietrecht.

      • franhunne4u schreibt:

        Strafrecht selbständig? Hm, wäre gut in Fällen, wo man sich darauf einigt, dass dann Lebensumstände wie Homosexualität nicht strafbar wären – und wäre schlecht, wenn man sich dann auf einen Standard einigt, wo Ehebruch wieder ein Straftatbestand wird.

      • Pfeffermatz schreibt:

        Genau so wie heute auch, oder? Wobei noch zu klären wäre, wie der Bürger im Zweistaaten-Modell das Strafrechtsystem beeinflussen kann. Vermutlich indirekt über die Wahl der Regierung des eigenen Staates, die ja in Zusammenarbeit mit dem anderen Staat das Strafrecht festlegt.

      • franhunne4u schreibt:

        Heute ist es das Tatort-Prinzip, das hast du dann nicht mehr!

      • franhunne4u schreibt:

        Außer im Inland gilt das deutsche Strafrecht auch auf allen Schiffen und in allen Luftfahrzeugen, die berechtigt sind, Hoheitszeichen der Bundesrepublik Deutschland zu führen (§ 3, § 4 StGB – Gebiets- oder Territorialitätsgrundsatz und Flaggenprinzip).

        Es gilt unabhängig vom Recht des Tatorts auch für bestimmte Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter (Schutzgrundsatz, § 5 StGB) sowie gegen international geschützte Rechtsgüter (§ 6 StGB, § 1 Völkerstrafgesetzbuch -Weltrechtsprinzip).

        Im Übrigen gilt das deutsche Strafrecht nach § 7 StGB, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt und

        die Tat gegen einen Deutschen begangen wurde (§ 7 Abs. 1 StGB – passives Personalprinzip) oder wenn
        der Täter
        zur Zeit der Tat Deutscher war oder es nach der Tat geworden ist (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB – aktives Personalprinzip) oder
        zur Zeit der Tat Ausländer war, im Inland betroffen und, obwohl das Auslieferungsgesetz seine Auslieferung nach der Art der Tat zuließe, nicht ausgeliefert wird, weil ein Auslieferungsersuchen innerhalb angemessener Frist nicht gestellt oder abgelehnt wird oder die Auslieferung nicht ausführbar ist (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB – Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege, aut dedere aut iudicare = ausliefern oder selbst bestrafen).

  2. Muriel schreibt:

    Möglich ist ja erst mal fast alles, aber ich glaube, es würde eine völlige Änderung des derzeitigen obrigkeitlichen Staatsbegriffs erfordern, den wir seit der Zeit der von Göttern bestimmten Herrscherinnen und Herrschern mit uns rumschleppen, und zwar meines Erachtens so weit, dass man dann auch gleich ganz drauf verzichten könnte und sollte bzw. die Organisationen, die dann die einschlägigen Aufgaben übernehmen, nicht mehr Staat nennen, weil das verwirrend wäre.
    franhunne4us Einwände finde ich nicht so überzeugend. Diese Probleme gibt es ja jetzt auch schon, und dementsprechend auch Lösungen. Wie du schriebst: Manches könnte komplizierter werden, aber manches auch einfacher.

    • Pfeffermatz schreibt:

      Das Zwei-Staaten-Modell ist sicherlich nur ein Punkt zwischen den Extremen „reine Nationalstaaten“ und „kompletter Anarchie“. Irgendwo dazwischen befinden sich auch unsere jetzige europäische Realität (die sich wenigstens bis vor kurzem vom Nationalstaat wegbewegte) und „Staatenlosigkeit mit andersartigen ordnenden Strukturen“. Welche dieser Konstruktionen sich als stabil erweisen…, wer weiß?

      • Muriel schreibt:

        Ich jedenfalls nicht, außer halt, dass dauerhaft natürlich keine. Äh. Aber ob die EU näher an Anarchie ist als reine Nationalstaaten, oder dass das gegensätzliche Extreme sind, zweifle ich nachdrücklich an.

      • Pfeffermatz schreibt:

        Ja, die Anarchie als Gegenpol war ein Kurzschluss. Eigentlich befinden wir uns auf der Achse, welche die Ebene der ordnenden Struktur beschreibt, so dass das Gegenpol zum Nationalstaat eher eine Art Weltregierung wäre. Anarchie ist ein Endpunkt der Achse „Ausmaß der staatlichen Ordnung“.
        Und eine Ordnung ist doch schon stabil, wenn sie zwei, drei Generationen bestehen bleibt. Bis dahin kommt eh Krieg oder Pest oder Tsunami oder Internet, halt irgendwas, was die bestehende Ordnung schwer in Mitleidenschaft zieht.

  3. Tanja im Norden schreibt:

    Ich glaube schon, dass ein Rechtssystem auch ortsgebunden bleiben wird und damit Staatsgebiete die zu stark ineinenander fließen wie das skizzierte Szenario nicht vorstellbar sind. Irgendwie muss man vermutlich immer eingrenzen in welchem Rahmen ein Gesetz gilt. Das könnte zwar auch eine andere Abgrenzung als eine räumliche sein. Statt für alle Menschen eines Raumes könnte es für alle Menschen einer Altersgruppe gelten, oder eben einer anders definierten Menge, deren Repräsentanten es dann eben beschließen dürfen. Aber ich tu mir mit dieser Vorstellung gerade noch sehr schwer.

    Aber ich kann mir gut vorstellen, dass sich der Begriff der Staatsangehörigkeit eines Individuums auflösen könnte oder zumindest auf eine andere Ebene verlagern. Praktisch spielt es ja auch keine Rolle mehr, dass zum Beispiel die Verfassung des Freistaats Bayern eine Staatsangehörigkeit regelt. Jeder sollte zu klaren Bedingungen dort leben können, wo er möchte. Es gibt dabei sicher ein paar praktische Fragen zu klären (eins der einfacheren Beispiele wäre z.B. Wie ist das mit dem Wehr- oder Sozialdienst?) aber die wird man dahingehend lösen müssen, dass Systeme durchlässiger werden.

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